von Anne Habermehl,
erschienen in: Kultur-Blätter Konstanz Nr. 581, 22.6.2002, Seite 5 und 6.
Kunst ist
Kunst ist Kunst. Ihr ist es gleichgültig, wie sie entsteht. Sie existiert in sich,
jenseits aller Definitionen und Grenzen. Sie für sich ist nicht pragmatisch. Sicher ist
aber, dass der Prozess des Kunstschaffens, des Kunsterkennens für den Menschen eine Art
des Selbstausdruckes ist, der auf ihn heilend wirkt. Wo Kunst entsteht, sind eine Vielzahl
von Energien beteiligt. Kunst ist Kraft und Leben und darf deshalb als ein ursprünglicher
Wille des Menschen gelten. Jeder Mensch ist befähigt und trägt das Bedürfnis in sich,
künstlerisch und kreativ schöpferisch tätig zu sein; und das macht die Kunst zum
therapeutischen Mittel.
Das
Hegau-Jugendwerk in Gailingen ist ein Rehabilitationskrankenhaus, das Kinder, Jugendliche
und junge Erwachsene nach schweren Unfällen wieder an das Leben heranführt. Der
Sonderschulpädagoge und Kunsttherapeut Jörg Rinninsland
hat dort mit seiner Kunstwerkstatt ein Forum geschaffen, in dem
die Patienten eine andere Art der Wiedereingliederung über die eigene künstlerische
Produktivität erfahren können. Seine Werkstatt, ein kleiner Raum im Gebäude der
jugendwerkinternen Wilhelm-Bläsig-Schule, dient den kleinen Patientengruppen, die sich
hier ein- bis zweimal wöchentlich der Kunst widmen, gleichzeitig als Ort der Förderung
wie der Therapie.
Die
anderen Rehabilitationswege des Jugendwerks, die darauf vorbereiten, in den Alltag
zurückzukehren, setzen unweigerlich die Maßstäbe der schulischen oder beruflichen
Realität und konfrontieren den Patienten mit den eigenen Defiziten, lassen ihn an seine
Grenzen stoßen. Im Gegensatz dazu bietet die Kunst, in der kein richtig oder falsch
existiert, die Möglichkeit, die Behinderungen in den Hintergrund zu rücken. Die Kunst
folgt keinen Richtlinien, die ein Urteil zulassen würden. Die Kunstwerkstatt bietet
Entlastung vom Leistungsdruck, dient als Tankstelle für den Patienten. Aber
nicht nur die Erfahrung, hier ohne Einschränkungen produktiv sein zu können, macht die
Kunstwerkstatt so wertvoll für die Rehabilitation. Die Kunst, die hier stattfindet, ist
Ausdruck von Spontaneität, Ausdruck von Unbewusstem. Im Dialog zwischen Maler und Bild
wird dem Unbewussten eine Gestalt gegeben, die fassbar und veränderbar ist. Auf diese Art
kann der Patient einen Zugang zu seiner eigenen individuellen Geschichte finden. Dieser
Zugang dient als Grundlage für die Verarbeitung einer Krankheit oder eines Traumas und
wird deshalb zur Therapie. Die Aufgabe des Kunsttherapeuten ist, die Kunstschaffenden bei
der Umsetzung ihrer Ideen dort zu unterstützen, wo ihre motorischen Möglichkeiten enden.
Jörg Rinninsland leiht seine Hände aus, fungiert als Diener im
Hintergrund, damit der Malende seine volle Konzentration auf das Bild richten kann, für
das ihm alle Freiräume gelassen und alle erdenklichen Materialien bereitgestellt werden.
Doch nicht
nur der Schaffensprozess selber heilt, auch das Ergebnis. Der Patient erlebt sich selber
als Erzeuger eines Produkts, das sein Dasein in der Welt sichtbar und sinnvoll macht. Er
hat etwas geschaffen, was besteht und ihn dadurch bestehen lässt. Jörg Rinninsland sieht
in diesem Prozess den Anstoß einer Erfolgsspirale; jeder Erfolg macht den nächsten
Erfolg wahrscheinlicher. Die bildnerische Arbeit kann den Menschen vorwärtstreiben, ihn
aus seiner Resignation herausreißen.
Mit dem Unfall bin ich gestorben. Die
neue Situation nach dem Unfall entzieht dem alten Lebensplan seine Wurzeln und zwingt den
Patienten zu seiner Aufgabe. Die Kunst kann beim Entwurf eines neuen helfen. Ein Patient,
der gerade am Tisch der Kunstwerkstatt zeichnet, beschreibt, er habe in der
künstlerischen Arbeit eine neue Aufgabe gefunden, die es ihm ermöglicht, Sinnvolles für
die Nachwelt zu erhalten. Und darin liegt ein weitere wichtiger Ansatz der Kunsttherapie:
die Präsentation des eigenen für die Augen der anderen. Die Folgen des Unfalls haben mit
dem Lebensplan auch dem Ich des Menschen die Grundlage genommen; und durch das, was er
schafft, kann er sich neu definieren. Über die Präsentation des Kunstwerkes und die positiven Reaktionen seines
Umfeldes kann der Patient zu neuer eigener Wertschätzung gelangen. Dafür hat das
Jugendwerk verschiedene Foren eingerichtet: in der Treppenhausgalerie des
Schulgebäudes, einem Ort, der sehr belebt ist, können die Künstler ihre Arbeiten mit
oder ohne Namen ausstellen, und ihre Wirkung auf die Vorübergehenden beobachten. Über
das Art-Cafe im Internet (www.artcafe-hegau-jugendwerk.de)
können die Werke auch ihre Eltern, Verwandte und Freunde erreichen, von denen die
Rehabilitanden oft durch große räumliche Distanzen getrennt sind. Die Anerkennung
Nahestehender ist für die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts
besonders wichtig. Die krankenhaus-interne Patientenzeitung PATZ, die mit einer Auflage
von 400 Stück die ganze Öffentlichkeit des Jugendwerkes erreicht, ist eine weitere
Plattform für Präsentationen. Seine Werke mit Namen in diesem Medium wiederzufinden,
macht natürlich stolz. Die Galerie Trau-Dich geht eine Stufe weiter: hier
wird die Präsentation der Kunst an die Bedingung an den Kunstschaffenden geknüpft, mit
den anderen Ausstellenden zusammen eine Eröffnung der Galerie vorzubereiten und zu den
eigenen Werken Stellung zu beziehen. Seit ein paar Jahren besteht im Jugendwerk außerdem
die junge Galerie, die zeitgenössische Kunst regionaler Nachwuchskünstler
auf dem Gelände des Jugendwerks ausstellt. Die junge Galerie soll zum einen
zur Auseinandersetzung der Rehabilitanden mit der Kunst anregen und ihnen dadurch neue
Impulse vermitteln, zum anderen holen ihre Eröffnungen die Öffentlichkeit von außen,
das Leben, zurück an einen Ort, der sonst von ihr abgegrenzt ist.
Kunst im
Jugendwerk findet also auf zwei Arten statt. Die eine ist ihre Betrachtung durch die
genannten Foren. Die andere ist ihre aktive Herstellung und Gestaltung durch die
Patienten. Neben dem gezielt therapeutischen Malen haben sie natürlich auch die
Möglichkeit, sich im ästhetischen und akademischen Malen zu üben und gemeinsame
Projekte zu verwirklichen, die in ihren Inhalten auf das gemeinsame Schicksal Bezug
nehmen.
Die Kunst,
die sich dem Besucher im Jugendwerk zeigt, sieht nicht anders aus als an anderen Orten.
Die Stimmung der Bilder ist eher positiv. Hier sind die, die überlebt haben.
sagt Jörg Rinninsland dazu. Vielleicht sind die körperlichen und geistigen
Einschränkungen ihrer Schöpfer in anderen Situationen für den Mitmenschen erkennbar. In
der Kunst sind sie es nicht.