Kunst als Schlüssel für neue Erfolgszuversicht
Erfahrungen aus der neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen

(erschienen in vds-edition 4 : Neue Konzeptionen und Unterrichtsformen in Sonderschulen, Karlsruhe, 2000)

Einleitung

Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg, so lautet ein verbreiteter Aphorismus. Er will sagen, dass bei jedem einzelnen überhaupt erst einmal Erfolge vorhanden und erlebt sein müssen, damit er durch die dadurch wachsende Erfolgszuversicht dann auch in komplexeren Zusammenhängen erfolgreich bestehen kann. Motivation spielt hier die Schlüsselrolle. Denn auch dies ist pädagogisches Gemeingut: ohne den Aufbau einer tragfähigen Lern- und Arbeitsmotivation sind auch in der Schule keine überdauernden Lernerfolge möglich.

Es geht also beim erfolgreichen Lernen im Wesentlichen um das Anstoßen einer positiv motivierenden Lern-Erfolg-Spirale. Erste Erfolge im schulisch relevanten Kontext sind immer, vor allem aber in sonderpädagogischen Bedingungsgefügen von besonderer Bedeutung. Gerade hier finden sich vermehrt Kinder, die durch ihre körperlichen, kognitiven und sozialen Einschränkungen oder Benachteiligungen Misserfolgserlebnisse wesentlich besser kennen als das beflügelnde Erlebnis beachteten Erfolges. Der Aufbau eines erfolgsorientierten, positiv gefärbten Selbstkonzeptes ist eine wesentliche Aufgabe bei der Förderung der Schüler nicht nur in der Schule für Körperbehinderte, der Förderschule oder der Schule für Erziehungshilfe.

 

Die Krankenhausschule

Regelrecht zugespitzt sind die Probleme eines eingebrochenen und nicht mehr stimmigen Selbstkonzeptes in der Krankenhausschule. Die in diesem Bericht geschilderten Erfahrungen beziehen sich auf das Kunstangebot der Krankenhausschule des Hegau-Jugendwerks in Gailingen am Hochrhein. Das Hegau-Jugendwerk ist ein Neurologisches Rehabilitationszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Die Rehabilitationsaufenthalte ziehen sich meist über viele Monate, manchmal sogar Jahre hin. Bei der Rehabilitation v.a. von Kindern und Jugendlichen spielt die Krankenhausschule eine wichtige Rolle. Viele der Rehabilitanden waren vor den traumatischen Ereignissen Schüler und verbinden eine erfolgreiche Rehabilitation - auch im eigentlichen Sinne des Wortes - mit ihrer Rückkehr in die alte Schule. Bei vielen Schädel-Hirn-Verletzungen zum Beispiel nach Verkehrsunfällen sind die plötzlich vorhandenen Behinderungen jedoch so schwerwiegend, vielfältig und umfassend, dass der alte Schul- und Lebensplan nicht mehr realistisch weiterverfolgt werden kann. "Durch den plötzlichen Verlust ihrer gewohnten Normalität stellen sich den Betroffenen Fragen nach dem Sinn und Zweck des Seins und den weiteren Zukunftsperspektiven" (Lippert-Grüner/Quester 1996, 4). Kinder und Jugendliche haben nach schwereren erworbenen Hirnschäden in besonderem Maße mit Krisen ihres Selbstkonzeptes zu kämpfen, hatte sich doch je nach Alter - das eigentliche, das prätraumatische Selbstkonzept selbst noch gar nicht voll und tragfähig etabliert. In Zeiten der Pubertät gerade auf der Suche, welche Rolle mit welchen Fähigkeiten man Willens und in der Lage ist, in der Gesellschaft zu spielen, zerstört ein Unfall in Augenblicken jede schon vorhandene Ordnung der Motive. Es ist nur zu verständlich, dass auch offensichtliche Schwierigkeiten, Ungereimtheiten zwischen Wollen und Wirklichkeit, zwischen alten Zukunftsplänen und neuen Zukunftsmöglichkeiten oft von den Schülern tabuisiert bzw. ins Unbewusste "ausgelagert" und nicht wahrgenommen werden. Ergebnis dieser Lebens- und Erlebenssituation ist zunächst die allgemeine Abwehr von Leistungsanforderungen, unmotiviertes Teilnehmen an Therapien und Unterricht, Opposition bis hin zu destruktivem Verhalten und offener Provokation. Der Weg zurück in einen neuen Alltag, "aus dem vielfach mit Ängsten und Unsicherheiten erfüllten Dasein in der Erkrankung, erfordert von den Betroffenen sehr viel Kraft, Willensstärke und Bereitschaft zur Veränderung." (Lippert-Grüner/Quester 1996, 11). Der Aufbau eines neuen, positiven Selbstkonzeptes und der damit verbundenen Erfolgszuversicht ist für die Motivation, mit der die Schüler in ihrer Rehabilitation um Erfolge kämpfen, unerlässlich. 

 

Das positive Selbstkonzept

Ein positiv geprägtes Selbstkonzept und die damit verbundene Erfolgszuversicht spielt eine zentrale Rolle in der Bewältigung von Daseinskrisen wie den Folgen schwerer Schädel-Hirn-Verletzungen. Neubauer sieht in dem Begriff des Selbstkonzepts einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von Konzepten bezüglich der eigenen Person, die mehr oder weniger aufeinander bezogen sind. Dieses System von Konzepten entsteht erst relativ spät in der individuellen Entwicklung aus zunächst mehr oder weniger isoliert voneinander erworbenen, recht unterschiedlichen Konzepten. Diese dann entstandene "kognitive Repräsentation der eigenen Person" (Neubauer 1976, 36) umfasst all jene gespeicherten Informationen, die sich in Relation zur eigenen Person in den mannigfaltigsten Erfahrungsbereichen ergeben haben. Dies sind insbesondere Informationen über den eigenen Körper, über eigene Fähigkeiten und Kenntnisse, über eigene Besitztümer, über eigene Verhaltensweisen, aber auch über die relative Wertschätzung jener Gegebenheiten innerhalb der individuell verfügbaren diversen Bezugssysteme. Diese Maßstäbe der Wertschätzung werden vom einzelnen unwillkürlich von seiner sozialen Umgebung übernommen. Baus/Jacoby meinen daher überspitzt sagen zu können, dass wir das sind, "was andere aus uns machen" (1976, 157).
Mit einem positiven Selbstkonzept fühlt sich der Einzelne stark. Er ist in der Lage, Misserfolge wegzustecken und sich künftigen Aufgaben und Forderungen seiner Umwelt gewachsen zu sehen. Der Träger eines positiven Selbstkonzepts empfindet sich als autark und als Verursacher seines Handelns. Dieses Handeln ist am Erfolg orientiert.
Diese wechselseitige Bedingtheit von Selbstkonzept und Umweltkonzept hat natürlich auch die Konsequenz, dass jemand mit negativ gefärbtem Selbstkonzept seine Umwelt als übermächtig empfindet. Er fühlt sich dem Schicksal ausgeliefert und wird das Misslingen der eigenen Handlungen erwarten. Mechanismen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung kommen hier dann zum Tragen.

 

Das Kunstangebot der Krankenhausschule

Das im formalen Rahmen der Einzelförderung organisierte Kunstangebot der Krankenhausschule verführt bei flüchtiger Betrachtung zu der Annahme, dass hier im Grunde ja Kunsttherapie angeboten werde, da ja in jedem Fall künstlerisch mit den Schülern gearbeitet wird und v.a. in der Einzelförderung der Krankenhausschule sonderpädagogische und therapeutische Merkmale kaum noch richtig zu trennen sind. Eine differenziertere Betrachtung ist also wichtig.
Die Schule, auch die Krankenhausschule des Hegau-Jugendwerks ist kaum in der Lage, psychotherapeutisch mit den Schülern zum Beispiel im Sinne psychoanalytischer Kunsttherapie zu arbeiten. Dennoch gibt es Aspekte in den kunsttherapeutischen Ansätzen, in denen sich das Kunstangebot der Krankenhausschule des Hegau-Jugendwerks wiederfindet. Es wird deutlich, dass das Selbstverständnis des Kunstangebotes mit seinen Inhalten und Zielen zwischen dem Kunstunterricht im herkömmlichen Sinn und der Kunsttherapie angesiedelt ist.
Stellvertretend für die vielen Ansätze der Kunsttherapie sollen hier einige Schlaglichter auf die therapeutische Seite des künstlerischen Schaffens geworfen werden. In Ermangelung einer grundlegenden Theorie stellt Schuster (1993, 165ff) empirisch gewonnene Wirkungsannahmen der Kunsttherapie zusammen, die seiner Meinung nach im Einzelnen noch zu prüfen wären. So führt er unter anderem auf:

Im Folgenden sollen einige der Kunsttherapie entlehnte Merkmale des Kunstangebots der Krankenhausschule näher umrissen werden, durch die es neben anderen Aufgaben vor allem das Ziel verfolgt, durch die Vermittlung erster (gestalterischer) Erfolge den Schülern den Einstieg in eine positive Lern-Erfolg-Spirale zu ermöglichen. 

 

Der Kunstbegriff

Streit über Kunst rührt zumeist aus dem sehr subjektiven Charakter des Kunstbegriffs. "Die Reaktionen von Menschen auf Kunstwerke sind individuell verschieden. Die Bewertung erfolgt gewöhnlich auf der Grundlage biographischer Erfahrungen und kulturell vermittelter Wissensstrukturen." (Schuster 1997, 14). Schüler besuchen das Kunstangebot der Krankenhausschule zunächst oft in der Haltung, das Kunst schön und gekonnt sein muss. Einfach nur so ein Bild malen sei keine Kunst. Die Kunsttherapie begegnet diesem unangenehmen weil blockierenden Leistungsdruck vor allem dadurch, dass sie den Schülern gegenüber immer wieder darauf hinweist, dass weniger das fertige Bild zählt als vielmehr der Entstehungsprozess, das bildnerische Arbeiten. Ein weiterer, von Schuster (1993, 159) erwähnter Aspekt ist jedoch in der Krankenhausschule viel wertvoller: "Die Anerkennung der abstrakten Malerei ermöglicht es auch dem Hobbymaler ohne technische Fertigkeiten, schöne und akzeptierte Gestaltungen zu erreichen. Insofern hat die Entwicklung der modernen Kunst erst die Möglichkeiten einer breiteren Hobbymalerei ermöglicht." Das "therapeutische" Malen nutzt hier Sichtweisen der modernen Kunst, aber auch umgekehrt nahm die moderne Kunst auf "therapeutische" Kunstwerke Bezug. Auf die Wechselwirkungen zwischen der modernen Kunst und 'Der Bildnerei von Geisteskranken' (so der Titel eines 1922 veröffentlichten Buch von Hans Prinzhorn) weist Thomas (1996, 16f) hin. "Für Paul Klee, Max Ernst, André Breton, Alfred Kubin und vor allem für den Franzosen Jean Dubuffet wurde die Sammlung Prinzhorns, die Einblicke in die Prozesse unmittelbarer Kreativität ermöglichte, zu einem Vorbild für das eigene künstlerische Schaffen. Für Dubuffet sollte Kunst ohne Vorbildung, aus der spontanen Arbeit mit dem Material heraus entstehen. Seine Konzeption von "art brut" veränderte die Kunst seit dem Ende der vierziger Jahre durchgreifend."
Auch der erweiterte Kunstbegriff von Joseph Beuys ist hier letztlich hilfreich. Er stärkt zusätzlich den Rücken von gestaltenden Laien oder besser gesagt, von nicht-professionellen Künstlern. "Wenn Beuys sagt, dass jeder Mensch ein Künstler sei, dann meint er damit nicht, jeder Mensch sei ein Maler oder ein Bildhauer. Er meint vielmehr, dass jeder Mensch kreative Fähigkeiten besitze, die anerkannt und ausgebildet werden müssen" (Stachelhaus 1987, 79).
Es geht also in der Krankenhausschule nicht um die hehre Kunst, die in Museen hängt und den Hauch von Luxus und Genialität hat, es geht um den Künstler in uns allen, der einfach nur gestaltet, gerade so wie er kann und es für richtig hält. Übersetzt in den Alltag der Schule bedeutet dies: "Du bist der Künstler, deine Entscheidung gilt. Ich als Lehrer kann dir allenfalls Tipps geben oder Tricks verraten. Was du aber nutzen willst, ist dir überlassen."

 

Die Arbeitsatmosphäre und die Lehrerrolle

Mit dem beschriebenen Kunstbegriff ist auch schon einiges über Arbeitsatmosphäre und Lehrerrolle gesagt. Das Schaffen einer entspannten Atmosphäre ist ein wichtiger Faktor, um verborgene kreative Kräfte nutzbar zu machen. Der liebevolle Umgang mit sich selbst, das sich Zeit lassen dürfen und auch ohne Ergebnis den Unterricht wieder verlassen können sind wichtige Merkmale des Kunstangebots der Krankenhausschule. Im Sinne von Arno Stern zeichnet sich dieser Malort aus durch die Abwesenheit von Zwängen und Leistungsbewertung.
Ich bin der Künstler, meine Entscheidung gilt! Dies ist eine Erfahrung, die für einen Schüler nicht so selbstverständlich ist. Auch ein Rehabilitand lernt schnell, dass die Therapeuten ihm dabei helfen, seine Defizite abzubauen. Es wird von vielen Schülern als sehr entlastend erlebt, dass sie im Kunstangebot der Krankenhausschule nicht wie in großen Teilen des Rehabilitationsalltags belehrend verbessert werden. Sie können etwas wagen, ohne Misserfolge in der Gestalt falscher Lösungen zu riskieren. In ihrer Kunst soll alles möglich sein, wenn sie es nur wollen. Dies entspannt die Einstellungen und damit die Atmosphäre spürbar.
Auch das Rollenverständnis des Lehrers im Kunstangebot kann wesentlich zur Entspannung der Situation beitragen. Er sollte sich keinesfalls als der klassische Wissensvermittler begreifen, sondern vielmehr als ein im Hintergrund wirkender Begleiter der Schüler auf dem Weg zu gelungenen (Kunst-)Werken. Er ist nur da, wenn er gebraucht wird, ja, er verwöhnt die Schüler sogar durch "Handlangerdienste" und signalisiert so: "Du bist mir hier wichtig, nicht deine Leistungsfähigkeit." Er stellt die Materialien, Techniken und Tipps zur Verfügung. Und der Lehrer arbeitet darauf hin, dass der Schüler seine Pläne und Ideen für die Stunde schon mitbringt. Die gestalterischen Pläne und Ideen des Lehrers sollen möglichst im Hintergrund bleiben.
Vor allem gilt es immer wieder, Erwartungsdruck abzubauen. Viele Schüler scheinen in den ersten Stunden im Kunstangebot regelrecht blockiert. Die Konfrontation mit den nun am eigenen Ich erlebten Defiziten oder Ängsten ist eher frustrierend und unangenehm. Dem Lehrer muss hier zunächst die Botschaft gelingen, dass der Schüler als Mensch interessant ist und als solcher auch geschätzt wird. In diesem Zusammenhang sollte der Begriff des Gelingens von Gestaltungen relativiert werden. Der oben erläuterte Kunstbegriff lässt sich meiner Erfahrung nach recht einfach vermitteln und wird gerne von den Schüler akzeptiert.
Der Lehrer kommt dennoch nicht umhin, immer wieder auch inhaltlich oder formal helfend einzugreifen. Die entscheidende Frage ist hier, wie viel Hilfe (und in welcher Form) kann ich geben, ohne dass der Schüler am Ende das Gefühl hat, dieses Bild ist gar nicht von ihm und aus ihm heraus entstanden, die Anteile des Lehrers waren ja wesentlich größer. Hier ist es sehr wichtig, den Schülern jeweils nur Vorschläge - auch unter Anbieten von Alternativen - zu machen. Tipps zur Verdeutlichung sollten nie im eigentlichen Werk des Schülers angedeutet bzw. ausprobiert werden, sondern immer auf einem gesonderten Blatt. Die danach vom Schüler getroffene Entscheidung muss dann gelten, auch wenn dies aus Sicht des Lehrers ästhetisch positive Ansätze im Werk vollständig zunichte macht. In diesem Zusammenhang müssen natürlich auch Abbrüche akzeptiert werden, wenn vorsichtige Versuche des Umstimmens keinen Erfolg gehabt haben. Kommentierend sollte der Lehrer jeweils in solchen Phasen positiv herausstellen, dass es die Entscheidung, die Leistung des Schülers ist, die zum Gelingen des Bildes beigetragen hat. Gelingen bedeutet hier, den Prozess des Malens zu einem guten Ende gebracht zu haben.
Bei Schülern, die durch motorische Einschränkungen wie spastische Lähmungen oder Ataxien in ihrer Feinmotorik so eingeschränkt sind, dass das Stift- oder Pinselhalten kaum gelingt und Linien nur unkontrolliert auf das Blatt geraten, genügen reine Substitutionen nicht mehr. Hier muss der Lehrer selbst sich als Hilfsmittel zur Verfügung stellen, und dies im eigentlichen Sinne dieser Formulierung. Er soll seine Hand dem Schüler gewissermaßen leihen.
Dies ist nicht so einfach, lassen sich doch eigene Angewohnheiten, Sichtweisen, Vorstellungen u.v.m. nicht so einfach abschalten. Wenn der Schüler beispielsweise wünscht, einen schwarzen Vogel bitte oben rechts in den Himmel zu malen, so wird dies ganz unwillkürlich ein Vogel werden, wie ihn sich der Lehrer vorstellt. Die bildlichen Vorstellungen des Schüler lassen sich nicht so detailliert versprachlichen, wie es in diesem Fall notwendig wäre. Genau dieser Umstand ist ja die Stärke des künstlerischen Gestaltens im therapeutischen Kontext. Eine Kunststunde würde dann zu einer anspruchsvollen Deutschstunde. Das herkömmliche Malen eines Bildes scheidet hier also aus.
Gute Erfahrungen haben wir mit Collagen gemacht, da hier die notwendigen Anweisungen präzise genug gelingen, um wirklich den Willen des Schülers umsetzen zu können. Anweisungen wie "Schneide hier" oder "Klebe da" lassen sich mit zeigenden Gesten verbinden - und so eindeutig klären. Auch sollte der Lehrer im Zweifel lieber einmal zuviel nachfragen, wo genau der Schnitt entlanglaufen soll. So kann der Schüler das Gelingen einer Collage gefühlsmäßig ganz auf sich und seine Ideen beziehen, obwohl die tatsächliche Fertigung ein anderer erledigt hat. Größtes Problem für den Lehrer ist auch hier, Entscheidungen der Schüler zu akzeptieren, die seinem gestalterischen Empfinden nicht entsprechen und das in seinen Augen bis dato gelungene Bild völlig ruinieren.

 

Die Wahl der Materialien

Ein weiter Schwerpunkt ist die Wahl der Materialien. Es ist oben deutlich geworden, dass der Schüler im Kunstangebot die Möglichkeit erhalten soll, sich und seine kreativen Möglichkeiten auch mit dem Ziel anerkannter ästhetischer Gestaltungen zu entfalten. Große Flexibilität ist daher ein wesentliches Merkmal des Kunstangebots, um auch spontan den Ideen und möglichen Meinungsänderungen des Schülers Rechnung tragen zu können. Flexibel kann ich als Lehrer jedoch nur reagieren, wenn die Auswahl meiner Techniken und Materialien möglichst anspruchslos ist. Je einfacher oder alltäglicher die Materialien, desto sinnvoller. Die Beschränkung auf schlichte Materialien und Techniken hat einen weiteren Vorteil. Man kann mit ihnen nicht nur jederzeit, sondern auch an jedem Ort arbeiten. Je weniger Geräte, Hilfsmittel oder Ausstattungen notwendig sind, desto leichter kann ich es in jedem (Klassen-) Zimmer und auch einmal ungeplant einsetzen. Mit der Wahl einfacher und alltäglicher Materialien wird zudem die Botschaft verstärkt, dass praktizierte Kunst in jedermanns Alltag einen Platz haben könnte und dass auch die Schüler nach Abschluss ihres Rehabilitationsaufenthaltes ohne Probleme zu Hause an Erfahrungen aus dem Kunstangebot anknüpfen können.

 

Die zentrale Rolle der Präsentation

Jeder wird schon die Erfahrung gemacht haben, dass ein guter Rahmen die Wirkung eines Bildes oder Photos wesentlich verbessert. Oft beginnt man etwas überhaupt erst zu schätzen in dem Moment, in dem es hinter Glas und gerahmt ist. Der Akt des Rahmens wird für sich schon verstanden als Bekundung von Wertschätzung. Aber auch die Art der Rahmen ist für unsere pädagogischen Zwecke nicht beliebig. Die durch Spangen gehaltenen rahmenlosen Bildhalter sind wegen der geringen Kosten sehr verbreitet, besitzen jedoch auch das Flair des Billigen und vermögen nicht in dem gewünschten Maß Wertschätzung zu symbolisieren. Die mit schwarzen Aluleisten gefassten Wechselrahmen der Treppenhaus-Galerie strahlen - vielleicht schon durch die Farbe Schwarz - etwas Würdevolles und Erhabenes aus. Immer wieder glauben Schüler es selbst nicht mehr so recht, dass sie dieses Bild gemalt haben, wenn es gerahmt seinen Platz im Treppenhaus gefunden hat.

 

Die Treppenhaus-Galerie der Rehabilitanden

In einem der größten Gebäudekomplexe des Hegau-Jugendwerks sind 15 der insgesamt 23 Unterrichtsräume der Krankenhausschule untergebracht. Durch große Fenster wirkt das Treppenhaus dieses Gebäudes sehr hell und freundlich. Die Seitenwände bieten Platz für insgesamt 21 schwarz gefasste Wechselrahmen.
Die Kunstwerke, die im Kunstangebot entstehen, sind natürlich persönlicher Besitz der Schüler. Sprechen Bild und Umstände seines Entstehens für die Präsentation in der Treppenhaus-Galerie, so bitte ich als Lehrer die Schüler um die Leihgabe ihrer Arbeit. Es bleibt dann ihre Entscheidung, ob und wie lange es ausgestellt werden soll. Oft spielt die Frage eine große Rolle, ob ihr Name auf dem Bild notiert sein soll oder nicht. Auch die Platzierung ihres Bildes ist von großer Bedeutung. Fast alle Schüler bestehen auf das Ausstellen ihrer Bilder im unteren Teil der Treppe zwischen Erdgeschoss und erstem Stock. Dies ist der "Schulweg" fast aller Schüler (ca. 90% der Rehabilitanden des Hegau-Jugendwerks werden beschult). Dort ist sichergestellt, dass die Bilder von den (sozial relevanten) Zimmer- oder Bettenhausgenossen der Schüler gesehen werden.

 

 

Das Art-Cafe, die Internet-Galerie der Rehabilitanden

Die größte soziale Relevanz besitzt für Kinder und Jugendliche - vor allem in gesundheitlichen Krisensituationen - der Kreis der Familie und hier vor allem die Eltern. Der Wunsch, gelungene Gestaltungen den Eltern, den Vereinskameraden, der alten Klasse oder dem Lehrer daheim zu präsentieren ist verständlich, haben die Kinder und Jugendlichen doch vor allem dort einen Ruf zu verteidigen. Zuhause sollen alle sehen, was sie inzwischen schon alles wieder zu Wege bringen.
Seit Sommer 1999 gehört zum Präsentationskonzept des Kunstangebots eine Internet-Galerie, in der Gestaltungen aus dem Unterricht präsentiert werden können. Das Art-Cafe ist gewissermaßen die Verlängerung der Treppenhaus-Galerie in die Heimatorte der Rehabilitanden hinein. Sie können also ihre Bilder tatsächlich ihren Eltern, Freunden und Mitschülern zu Hause zeigen, ohne sie nach Hause tragen zu müssen. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Werke mit den Namen ihrer Schöpfer versehen sind, wenn sie also von den Freunden daheim identifiziert werden können. Voraussetzung dafür ist das schriftliche Einverständnis der Kunstschaffenden (bei Minderjährigen auch das Einverständnis der Erziehungsberechtígten), dass Name und Alter genannt werden dürfen.
Natürlich liegt im Medium Internet selbst schon eine Aufwertung gegründet. Allein der Gedanke, dass die ganze Welt jetzt sehen kann, dass ich schon wieder in der Lage bin, solche Bilder zu malen, ist etwas Ungeheures. Dabei spielt es eine eher untergeordnete Rolle, wie viele Personen tatsächlich das Art-Cafe besuchen werden. (Für alle Interessierten ist hier die Adresse- sie lautet: www.hegau-jugendwerk.de/artcafe)

 

Die Galerie Trau-Dich im Freizeithaus

Das Freizeithaus ist ein offener Bereich für Rehabilitanden und deren Angehörige, in dem es möglich ist, die Freizeit zu gestalten. Sozialpädagogen bieten freiwillige Werkangebote (Seidenmalerei, Malen, Holzarbeiten, u.a.) sowie verschiedene Projekte (Tanz, Theater, Spiel) an. Es wird Raum geboten, um die Ideen zu verwirklichen. Geburtstagspartys können genauso gefeiert werden wie ein Kicker-Turnier.
Der Freizeitbereich gliedert sich in verschiedene Räume. Neben dem großen Disco-Raum gibt es eine Kegelbahn, Werkräume, einen Kiosk und eine kleine Küche. Im Freizeithaus finden immer wieder größere Veranstaltungen statt, die von engagierten Vereinen und Verbänden mitorganisiert werden.
Die Galerie Trau-Dich besteht aus gerade einmal fünf Wechselrahmen, die im zentralen Raum des Freizeitbereiches hängen. Hier finden kleine Einzelausstellungen von Rehabilitanden statt. Immer wieder fallen Rehabilitanden auf, die sehr viel, sehr begeistert, mutig und routiniert zeichnen und malen. Für sie ist das Angebot, ihre Bilder in der Treppenhaus-Galerie zu präsentieren, nichts Aufregendes. Sie wissen, dass sie gut malen können. Eine eigene kleine Ausstellung aber mit selbst gestalteter Vernissage besitzt doch einen besonderen Reiz. Hierzu muss man sich erst einmal trauen. Im Mittelpunkt stehen, der Kritik der Gäste-Runde ausgeliefert zu sein und diese Situation dann geschafft zu haben, ist eine Leistung.
Es wird im Konzept der Galerie Trau-Dich Wert auf die Gestaltung einer kleinen Eröffnungsfeier Wert gelegt. Welche musikalische Begleitung wird organisiert oder aufgelegt, was soll es zu essen und zu trinken geben oder wer spricht einige Begrüßungs- und Erläuterungsworte? All dies sind Fragen, die zur Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung zwingen und an deren Ende ein Zugewinn an sozialer Kompetenz und Selbstbewusstsein für den Künstler steht.

 

Die PATZ

Die PATZ ist die "Patientenzeitung" der Rehabilitanden im Hegau-Jugendwerk. Sie erscheint viermal im Jahr und hat einen Umfang von ca. 24 Seiten. Betreut wird dieses Projekt von Mitarbeitern verschiedener therapeutischer Bereiche, welche die Struktur für diese Zeitung schaffen, Beiträge sammeln, das Vervielfältigen und das Verteilen übernehmen. Die Inhalte sind im wesentlichen Text- und Bildbeiträge verschiedener Rehabilitanden, die sowohl während der Freizeit wie auch in Unterricht und Therapie entstanden sind.
Die PATZ wird in einer Auflage von ca. 400 Stück vor allem innerhalb des Rehabilitationszentrums verteilt. Mit 222 Betten und über 400 Mitarbeitern erreicht sie auch so eine relative Öffentlichkeit, die wie bei der Treppenhaus-Galerie für die Schüler besondere Relevanz besitzt. Diese eingeschränkte Öffentlichkeit reicht bei weitem aus, damit die PATZ ihren therapeutischen Nutzen entfalten kann.
Schüler des Kunstangebots können ihre Gestaltungen nicht nur innerhalb der Treppenhaus-Galerie oder im Artcafe präsentieren, sondern auch als Beiträge in der PATZ. Das PATZ-Projekt ist unter anderem auch der Versuch, die positiven Motivationsmechanismen, die sich im Kunstangebot gezeigt haben auf andere therapeutische Bereiche und Schulangebote zu übertragen. Auch im Deutschunterricht wirkt die Aussicht auf eine Veröffentlichung in der PATZ motivierend. Es wird hier darauf geachtet, dass jedes Leistungsniveau seinen gleichberechtigten Platz in der Zeitung erhält. Ein einfacher Beitrag über Erlebtes, vielleicht nur wenige Wörter lang, wird genauso veröffentlicht wie ausgeteilte Texte von Schülern der Oberstufen-Gruppen. Entscheidend allein ist der Einsatz, den der Schreiber gebracht hat und die dadurch gerechtfertigte Anerkennung, die durch die Veröffentlichung erreicht wird.
So wird die PATZ zu einem Kaleidoskop der Themen und Niveaus. Jeder Schüler, der darin seinen Beitrag mit seinem Namen wiederfindet, ist stolz. Dieser Erfolg gegenüber relevanten sozialen Bezugspersonen oder Gruppen wie Mitpatienten, Ärzten oder Eltern baut auf. Er motiviert für weitere Anstrengungen und stabilisiert die angeschlagene Psyche, in der sonst Gefühle der Minderwertigkeit Raum greifen können.
Die PATZ hat sich wie die Treppenhaus-Galerie oder das Artcafe als sinnvolle Ergänzung, als Verlängerung des Therapie- oder Unterrichtsangebots nach außen, bewährt. Es ist eben doch motivierender, ein konkretes Ziel, einen aus dem Lebensalltag geholten Zweck für seine Bemühungen vor Augen zu haben als sich im Unterricht lediglich für die Ablage im Ordner und später im Altpapier anzustrengen.
Die Bewertungen der eigenen Leistungen werden nur dann in das Selbstkonzept integriert wenn sie von sozial relevanter Seite geäußert werden. Das Lob eines x-beliebigen Fremden hat hier weit weniger Bedeutung als Anerkennung von Eltern, Freunden, oder anderen Personen, die eng mit der momentanen Lebenssituation verbunden sind. Diese Anerkennung der gestalteten Kunstwerke von sozial relevanter Seite ist auch für die motivierende und psychisch stabilisierende Wirkung des Kunstangebot von zentraler Bedeutung. Parallelen zu der Projekt-Methode der Reformpädagogik werden deutlich, in der ebenfalls unterstrichen wird, dass sich die Bemühungen der Schüler in ihrer tatsächlichen Lebenswirklichkeit auswirken müssen. Dazu müssen die Kunstwerke jedoch einer möglichst sozial relevanten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und von dieser auch wahrgenommen werden. Das Suchen von Öffentlichkeit ist also kein mögliches Anhängsel, sondern ein zentraler Faktor in der Konzeption des Kunstangebots. 

 

Zusammenfassung

Vertrauen auf eigene Fähigkeiten und Erfolgszuversicht ergeben sich aus einem positiven Selbstkonzept, welches durch die Möglichkeiten künstlerischen Gestaltens besonders effektiv aufgebaut oder stabilisiert werden kann. Wichtig sind dabei Gestaltungstechniken, die auch motorisch, kognitiv oder neuropsychologisch eingeschränkten Schülern ästhetisch befriedigende Ergebnisse ermöglichen. Hilfestellungen von Lehrerseite sollten dabei die Identifikation mit dem Kunstwerk nicht verhindern. Der quasi öffentlichen Präsentation der Gestaltungsergebnisse kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu, da v.a. eine möglichst breite Anerkennung von sozial relevanter Seite das Selbstkonzept positiv zu verändern vermag.

 

 

Literatur

 

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DUNCKER, Ludwig / GÖTZ, Bernd: Projektunterricht, Langenau-Ulm, 1984

FISCHER, Dieter: Kunst und geistige Behinderung - Widerspruch oder Schritte der Annäherung, Vortrag anlässlich der Ausstellung "Sehweisen", Reutlingen, 1986

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LIPPERT-GRÜNER, M / QUESTER, R.: Kunsttherapeutische Interventionen bei unterschiedlichen neurologisch-neurochirurgischen Defektsyndromen in: Quester, R. / Lippert-Grüner, M.-. Schädel-Hirn-Trauma, Kunsttherapie, Rehabilitation, Köln 1996

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NEUMANN, Norbert-Ullrich : Kunst wirkt, auch therapeutisch - Anmerkungen eines Psychiaters, in Kraus, Werner (Hrsg.) : Die Heilkraft des Malens, München, 1996

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QUESTER, R. / LIPPERT-GRONER, M. : Entwicklung und Einsatz der Kunsttherapie in der Rehabilitation nach erworbenen Hirnschäden, in: Quester, R. / Lippert er, M.: Schädel-Hirn-Trauma, Kunsttherapie, Rehabilitation, Köln, 1996

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SCHWEIZER, Vreni: Neuropsychologisches Training, Vortrag 1994 im Hegau-Jugendwerk

STAATSINSTITUT für Schulpädagogik und Bildungsforschung München: Die Schule für Kranke, Würzburg, 1995

STACHELHAUS, Heiner: Joseph Beuys, Düsseldorf, 1987

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SZLOSEK, Sonja Lydia: Maltherapie mit geistig behinderten Jugendlichen, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 7/97, S.276 -280

THOMAS, Christoph: "Ich kann nicht malen ..." Geschichte, Verfahren, Möglichkeiten und Grenzen der Kunsttherapie, in: KRAUS, Werner (Hrsg.): Die Hellkraft des Malens, München, 1996

WICHELHAUS, B.: Heilpädagogische Kunsttherapie in der Rehabilitation, in: Quester, R. / Lippert-Grüner, M.: Schädel-Hirn-Trauma, Kunsttherapie, Rehabilitation, Köln, 1996

 

Jörg Rinninsland,
Sonderschullehrer für Körper- und Sprachbehinderte an der Krankenhausschule des Hegau-Jugendwerks, einem Neurologischen Rehabilitationszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, Kapellenstr. 31, 78262 Gailingen am Hochrhein
e-mail: joerg.rinninslandäthegau-jugendwerkpktde

 

 






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