Karl-Heinz
Menzen: Einführung in die Ausstellung
Bilder aus der Zwischenzeit
eine Ausstellung des Hegau-Jugendwerks von Jörg Rinninsland
Freiburg, KFH, 11.4.2005
Exploration in the dark
Da hängt ein Bild.
Und auf diesem Bild verbirgt sich vieles. Farbschichten, Farbkompositionen, die
darunter Liegendes vermuten lassen. Fünf solcher Bilder hat der Betroffene
gemacht. Er hatte einen Realschulabschluss geschafft. Und dann geschieht ihm mit
seinem Auto ein Unfall. Ursache ungeklärt. Danach ist er arbeitslos. Das ist
schon zwei Jahre her. Er ist stark bewegungsgestört. Er geht schwankend und
wirkt wie ein Betrunkener. Immer wieder schießen unkontrollierte Bewegungen in
alle vier Gliedmaßen ein. Alles was er tut, ist erschwert. Wir kennen das aus
der Spastik, wir kennen das auch vom Parkinson-Erkrankten: Das Zusammenspiel des
willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungssystems kann gestört werden. Und
dann passiert es: Er sitzt in der Kunstwerkstatt, nimmt den Bleistift in die
Hand, und dieser fliegt im selben Augenblick durch ganzen Raum. Er kann ihn
nicht halten. In diesem Augenblick ist Fantasie gefragt. Und diese Fantasie hat
z.B. Jörg Rinninsland, der mit seinen Mitarbeitern auf die einfache Idee kommt,
ihm Fingerfarben an die Hand zugeben. Jetzt kann er malen. Das Blatt wird
festgeklebt auf dem Tisch. Mit erwachender Begeisterung malt er Farbschicht über
Farbschicht. Er fängt an, kontrolliert zu arbeiten. Und wir wissen, wie jetzt
willkürliches und unwillkürliches Bewegungssystem aufeinander zu arbeiten. Als
das Bild fertig ist, traut er sich an die nächsten Bilder heran. Und dann kann
er sogar in einer Ausstellung diese Bilder der Öffentlichkeit präsentieren.
Sein Selbstwertgefühl, das schwer geschädigt war, ist gestärkt.
Das Bild, dass in
unserer Mitte steht, ist in einer Einrichtung entstanden, die zur neurologischen
Rehabilitation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen errichtet worden
ist. Das Hegau-Jugendwerk in Gailingen am Hochrhein repräsentiert ein
neurologisches Rehabilitationszentrum. Diesem ist ein Fachkrankenhaus
angegliedert, welches Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine
umfassende Rehabilitation anbietet. Es ist eine bundesweite Modelleinrichtung
und wird finanziell von Bund, Land und Sozialversicherungsträgern gefördert.
Seit 1972 werden in diesem Rehabilitationszentrum Patienten über die
Landesgrenzen hinaus behandelt.
Insgesamt verfügt
diese Einrichtung über drei Abteilungen: Frührehabilitation (12 Betten), Frühmobilisation
(28 Betten) und Rehabilitation (182 Plätze). In der Einrichtung werden Kinder,
Jugendliche und junge Erwachsene bis zu 21 Jahren, in Einzelfällen bis zu 25
Jahren aufgenommen. Auch die teilstationäre Behandlung ist möglich.
Natürlich erfolgt
die Aufnahme der Patienten in Abhängigkeit von Art und Zeitpunkt der Schädigung,
dem aktuellen Zustand und der speziellen Zielsetzung in der entsprechenden
Abteilung. Es geht nicht nur in dieser Einrichtung um Rehabilitation des Körpers
und der Seele, es geht auch um schulische, berufliche und soziale
Wiedereingliederung. Zu diesem Zweck ist eine Krankenhausschule angegliedert:
dies ist eine staatlich anerkannte Privatschule, in der ganztags und ohne
Unterbrechung unterrichtet wird. Der Besuch in dieser Schule soll die
entstandenen Defizite ausgleichen.
Das
Rehabilitationskonzept des Jugendwerks bietet also eine medizinische, schulische
und berufliche Rehabilitation. Dies ist einzigartig in der Bundesrepublik.
Erkrankungen und Schädigung des Gehirns bzw. des Nervensystems führen vorübergehend
oder langfristig zu vielfältigen Fähigkeitsstörungen auf körperlichem,
seelischem oder geistigen Gebiet. Ziel neurologischer Rehabilitation des
behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen ist es, diesem zur Rückkehr
in Familie, Schule oder Beruf und sozialen Umfeld zu verhelfen - entsprechend
seinen Wünschen, Vorstellungen und Fähigkeiten. Hierzu bedarf es der
Verminderung oder Beseitigung der Fähigkeitsstörungen, der Kompensation durch
Erlernen von Ersatzstrategien oder den Einsatz von Hilfsmitteln sowie die
Minimierung der Auswirkungen einer Behinderung. Rehabilitation, das lernen wir
aus der Struktur dieser Einrichtung, ist ein Lern- und Entwicklungsprozess, der
unmittelbar nach der akuten medizinischen Behandlung beginnt.
Wenn die Werbebroschüre
sagt, dass die Rehabilitation im Jugendwerk von einem ganzheitlichen und
umfassenden Behandlungsansatz ausgeht, dann meint eine solche Aussage, dass in
solcher Rehabilitation alle notwendigen medizinischen, fachtherapeutischen,
schulischen und vorberuflichen Behandlungs-, Trainings- und Fördermaßnahmen
vorkommen. Und entsprechend arbeiten in der Einrichtung zusammen ein
multiprofessionelles Team aus Ärzten, Psychologen, Pflegekräften,
Fachtherapeuten, Lehrern und Pädagogen.
Im Kinderhaus,
wo 44 Kinder in vier Gruppen mit 11 Kindern wohnen, finden alle Therapien
statt – mit Ausnahme von Schule und Sport. Therapien - das bedeutet
Behandlung in der Früh- Rehabilitation: von schwer bewusstseinsbeeinträchtigten
Patienten, Patienten im Wachkoma, Patienten mit vegetativer Instabilität, -
hier geht es um Menschen, die schon früh zu mobilisieren sind: die Folgen
von Krankheit und Schädigung müssen vermindert werden ; die vegetativen
Funktionen müssen wieder reguliert werden ; der Muskeltonus und die Körperhaltung
müssen normalisiert werden; die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit
muss wiederhergestellt werden; die Selbstständigkeit bei den Aktivitäten
des täglichen Lebens muss antrainiert werden; und nicht zuletzt: die
verschiedenen Sinne, die geschädigt worden sind, müssen gezielt stimuliert
werden.
Und das
geschieht durch den Einsatz von Musiktherapie, von bildnerischer Therapie,
von neuropsychologischer Funktionstherapie, von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen
bei psychischen Anpassungsstörungen, über die Beratung und therapeutische
Begleitung von Angehörigen, von Ergotherapie; von Logopädie; von Unterstützter
Kommunikation; von Physiotherapie; von Sporttherapie ; von Schwimmtherapie
usf.
Der ganztägig-schulischen
Integration - inklusive Schulkindergartenbetreuung - kommt in den
neurologisch-rehabilitativen Maßnahmen eine gewichtige Rolle zu. So gut wie
ohne Vorbilder in der BRD, unterrichtet die Krankenhausschule mit 39 Lehrkräften
durchweg 190 Rehabilitanden. Einzelunterricht oder Unterricht in einer
Leistungsgruppe ist die Frage, die sich stellt. Aufmerksamkeit,
Arbeitstempo, Belastbarkeit, Ansprechbarkeit, Sprach- und Sprechfähigkeit,
Graphomotorik und ähnliche Kompetenzen stehen natürlich im Mittelpunkt.
Rehabilitationsziel
ist die Rückkehr in die vorherige Schule oder Ausbildung. Der musikalische
Ausdruck und das künstlerische Gestalten sind wichtige Förderfächer. Ich
möchte so gerne wieder in meine alte Schule gehen" sagt Vinzenz
(angefahren von einem Auto in Südfrankreich, Folge: SHT), mit Freunden auf
dem Schulhof herumtollen und Hausaufgaben machen."
Die berufliche
Integration der Rehabilitanden ist besonders wichtig, das bewerkstelligt die
Berufstherapie: Arbeitstrainings-, Montage-, berufsbezogene Arbeit,
vielleicht Berufsfindung, Arbeitserprobungen, Förderlehrgänge, externe
Praktika.
Da ist auch ein sozialpädagogischer Dienst, der pädagogisch gezielt die Möglichkeiten für die Rehabilitanden zum Wiedererlernen vormals beherrschter Fähigkeiten unternimmt, der Kommunikations- und Konfliktfähigkeit fördert, der bestimmte Verhaltensauffälligkeiten bearbeitet. Und da ist schließlich die so genannte Junge Galerie, in der auch Künstlerisches ausgestellt werden kann. Wir sind beim Thema:
Mein Unfall
Er hat sein schriftliches Abitur hinter sich, er hat gute Noten, die braucht er, er will Pilot werden. Jetzt aber will er sich endlich einmal um sein Motorad kümmem. Er will den Kilometerzähler gegen einen anderen austauschen, er möchte eine Testfahrt machen, den Kilometerzähler ausprobieren. Und das macht er ohne Helm und er ist so beschäftigt mit diesem Kilometerzähler, dass er den Lastwagen nicht wahrnimmt. Es kommt zu einem Unfall.
Er wacht in der Rehabilitationsklinik auf. Er ist wenig belastbarer wirkt durcheinander und wenig ansprechbar. Aber da sind diejenigen, die mit ihm arbeiten. Die ihm merkwürdigerweise Buntstifte und Bleistifte in die Hand geben. Die ihn ermuntern, aus der Erfahrung die Details zu malen, zu zeichnen: seinen Unfall zu zeichnen. Jetzt kommt es auf jedes Detail an. Der Unfall ist ja bei ihm zuhause passiert und er kennt jedes Haus in der Nähe. Der Zaun - er sieht so aus, der Garten – er sieht so aus, die Ladefläche des Autos - war so beladen, und das Motorrad - das lag so da. Auf dem Bild sind es allenfalls die beiden Engel, von denen er und wir nur vermuten, dass sie da waren. - Nach seiner Entlassung holt er sein mündliches Abitur nach. Die Punktezahl zum Pilot reicht jetzt nicht mehr. Aber vielleicht kann er Soziologie oder Theologie studieren, solches hatte er sich während des Klinikaufenthalts überlegt.
Schädelhirntrauma-Verletzungen (SHT) betreffen das vordere Hirn, und dieses ist für unsere Bewegungsentwürfe, für unsere Bewegungsplanung zuständig. In diesem Gehirnbereich werden Verhaltensweisen auch emotional bewertet und gespeichert. Wenn dieser neuronale Bereich betroffen ist, dann ist vieles durcheinander. Dann sind die Bewegungen durcheinander, das was ich planen will, das was ich von mir kenne, wie ich es tue, was ich dabei empfinde. Das Verhalten und das dazu gehörige Gefühl sind durcheinander. Ab und zu können die Patienten die einfachsten Bewegungen nicht mehr zuordnen. Und dann muss man es ihnen in der Rehabilitation wieder beibringen. Das Zeichnen, das genaue Zeichnen ist hierbei wichtig. Die bildnerisch orientierte Therapie verlangt, genau hinzusehen, genau wiederzugeben, wie ein zeichnerisches Protokoll die Situation wiederzugeben. Und die Ermunterung, dieses zu tun, bewirkt Selbstwertgefühl. Die Begleitung dieses Prozesses, das haben wir aus dem ersten Beispiel gelernt, ermuntert auch, Bewegungskontrolle auszuüben, das was der Patient bisher nicht mehr konnte, nunmehr kontrolliert zu tun.
Halt und
Geborgenhei
Vor sechzehn Monaten
läuft die Realschülerin unbedacht neben dem Zerastreifen über die Straße.
Ein Auto erfasst sie. Schädelhirntrauma-Verletzung. Rollstuhl. Leichte Spastik.
Ihre Arme und Beine sind relativ unkontrolliert. Mit diesen Händen kann sie
nicht mehr zeichnen und malen, und das hat sie so gerne getan. Mit der linken
Hand kann sie besser zeichnen und malen, obwohl sie rechtshändig ist. Jetzt hält
sie die rechte Hand mit der linken fest. Jetzt versuchte sie ein kleines Bild zu
malen, es ist sehr schwierig, dieser beiden Personen zu malen. Es ist eine
Hochzeitspaar aus einem Gemälde von Chagall. Als es fertig ist, kommt es in die
Schublade.
Nach den vergangenen
sechzehn Monaten ist sie nun rehabilitiert, sie wird entlassen. Ein Jahr lang
hatte sie im Jugendwerk zugebracht. Sie packt ihre Bilder zusammen, Bilder die
im Schrank der Kunstwerkstatt liegen. Sie hatte des öfteren schon Bilder
mitgenommen, anderen geschenkt. Und dann kommt ihr dieses kleine Bild wieder in
die Quere: zwei Menschen, die sich offenbar gern haben, die sich halten, die
sich Geborgenheit geben. Sie lässt dieses Bild einfach liegen. Warum soll sie
sich damit auch noch beschäftigen? Die Sehnsucht nach Geborgenheit, obwohl sie
so da ist, dass dieses Bild entstehen konnte, - sie bleibt in einer Schublade
liegen. Erinnert das Bild daran, dass sie Erfüllung braucht.
Im Hegau-Jugendwerk
geschieht etwas ganz Wunderbares, und einer von denen, die dieses Jugendwerk
verantworten, ist mitten unter uns: Jörg Rinninsland. Er ist einer von denen,
die sich darum bemühen, zuerst diagnostisch zu erkennen, worum es den
Jugendlichen überhaupt geht. Und er ist einer von denen, die erkannt haben,
dass in der schweren Betroffenheit einer neuronalen Beschädigung oder
Erkrankung oft die Ausdrucksmittel fehlen.
Was liegt da näher,
als die Mittel zu aktivieren, die keines Wortes bedürfen. Er mobilisiert mit
bildnerischen Mitteln, er ermöglicht einen nicht-verbalen Ausdruck. Und er ist
dabei, wenn es darum geht, das Gezeichnete, das Gemalte auszuhalten. Schließlich
Halt und Geborgenheit zu geben. Die Kraft die dazu nötig ist, die hat er, aber
die wünschen wir ihm auch, denn in solchen Prozessen, die über Jahre dauern,
die viel emotionale Verwirrung mit sich führen, braucht es einen
Durchhaltewillen, braucht es viel Frustrationstoleranz in Zeiten, wo der Helfer
denkt, dass alles umsonst ist.
Karl-Heinz Menzen